Miscellanies und wandernde Gedichte

Miscellanies

Tottels Miscellany, die erste gedruckte Sammlung von Gedichten unterschiedlichster Autoren, wurde bereits in ihrem Erscheinungsjahr 1557 so populär, dass innerhalb weniger Monate eine Neuauflage erfolgte1. Sie begründete eine große Mode, aus der eine Vielzahl ähnlicher Gedichtsammlungen entstanden, darunter England’s Helicon (1600 und 1614).

Der Ordnung nach Autoren bei Tottel folgte schon bald ein Spiel mit der Anordnung der Gedichte: sie wurden zueinander in Bezug gesetzt, etwa als Antworten oder Dialoge; so veränderte sich die Bedeutung der einzelnen Gedichte im Kontext. Die Herausgeber/Kompilatoren werden somit zu Mitschöpfern des Werkes und Co-Autoren.

Commonplace Books

Die populäre Form der Miscellany war für viele frühneuzeitlichen Leser eine mögliche Quelle für private Abschriften von Gedichten und Zitaten, die in sogenannten Commonplace Books gesammelt wurden. Somit wurden Leser ebenfalls zu Co-Autoren, indem sie die Gedichte neu anordneten und in neue Zusammenhänge stellten.

Das wandernde Gedicht im Liber Lilliati

The Bodleian Libraries, University of Oxford, MS Rawlinson Poetry 148, Liber Lilliati, fol. 96v.

John Lilliat kopierte das vielfach reproduzierte und Christopher Marlowe zugeschriebene Gedicht „Come live with me and be my love” in sein handschriftliches Commonplace Book aus dem Jahre 1589. Dabei nahm Lilliat handschriftliche Ausbesserungen vor: er ließ zwei Verse aus und änderte den Text leicht ab, womit er auch den Rhythmus der Zeile beeinflusste. In Zeile 3 liest man im Liber Lilliati „That hills and valleys, groves, and fields“, in anderen Versionen hingegen heißt es: „That Valleys, groves, hills, and fields.“ Auch in Zeile 15 veränderte er „pleasures“ zunächst zu „thinges“, ersetzte dieses dann aber letztlich durch „delightes“.

Frühneuzeitliche kollaborative Dramen

Unter den Vorzeichen der Genie-Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts wird Shakespeare als alleiniger Autor genannt.
Heute geht man davon aus, dass Shakespeare und Wilkins für das Drama Pericles kollaboriert haben.
Wilkins’ Erzählung ist stark an das Drama Pericles angelehnt, an dem Wilkins und Shakespeare beteiligt waren. Auch hier wird Shakespeare als alleiniger Autor des Dramas aufgeführt.

Entgegen der weitverbreiteten, romantischen Ansicht, Shakespeare sei ein allein agierendes Genie gewesen (die sogenannte Genie-Ästhetik), schrieb William Shakespeare viele seiner Werke mit anderen Autoren gemeinsam oder ließ sich von anderen Werken inspirieren. Das Drama Pericles, Prince of Tyre (ca. 1607) zum Beispiel wird heute auch George Wilkins als Co-Autor zugeschrieben. Jedoch wurde Wilkins bis vor wenigen Jahrzehnten nicht als solcher wahrgenommen und Shakespeare, wie auf dem Titelblatt der Tauchnitz-Ausgabe von Pericles aus dem Jahr 1868, als alleiniger Urheber angegeben. Pericles wurde sogar wiederum zur Vorlage für George Wilkins‘ kurze Zeit später veröffentlichte Erzählung Pericles Prince of Tyre. Auch in der Ausgabe dieser Erzählung von Wilkins aus dem Jahr 1857, trennt der Editor Tycho Mommsen auf dem Titelblatt eindeutig die Autorschaft von Shakespeare und Wilkins an den jeweiligen Werken.

Ein weiteres Beispiel ist das Drama Gorboduc, das im Jahre 1565 gedruckt wurde und von Thomas Norton und Thomas Sackville gemeinsam verfasst wurde. Auf der Titelseite wird sogar angegeben, welche Akte von wem geschrieben wurden.

Co-Kreativität im digitalen Zeitalter

Shakespeare nutzte für seine Theaterwerke Quellen früherer Autoren. Diese diachrone Form der Co-Autorschaft wird auch heute fortgeführt, etwa in (zumeist digital publizierter) FanFiction. So gibt es aktuell auf der FanFiction-Plattform „Archive of Our Own“ im Internet circa 6.500 FanFics zu Romeo and Juliet. Shakespeares Tragödie wird somit zum Ausgangspunkt für aktuelle und populäre Zugänge. In den FanFictions sticht insbesondere die Figur des Tybalt hervor. Während dieser in Shakespeares Original lediglich 36 Sprechzeilen hat, tritt Tybalt in der FanFiction Welt von Romeo und Julia in 38,5% der FanFics auf und ist dort häufig Protagonist. Eine BA-These zu diesem Thema von Yves Herak können Sie hier lesen.

Falls Du selbst in die Welt der FanFiction eintauchen möchtest, findest Du hier außerdem Links zu zwei verschiedenen Tybalt-Interpretationen. Viel Spaß beim Schmökern!

LieutenantSaavik. „what knive through yonder ribcage breaks!“

Archive of Our Own, Organisation for Transformative Works, 2019.

grapefruitsnacks. „By Any Other Name.“

Archive of Our Own, Organisation for Transformative Works, 2018.

Objekt des Monats: Der Leser im Dialog mit dem Text

Titel-Kupferstich der Gesichte

Öffnen wir heute ein Buch, das bereits von anderen Personen gelesen wurde, ist es nicht ungewöhnlich, dass es Spuren des Lesens aufweist. Dazu zählen nicht nur etwaige Flecken oder Eselsohren eines unvorsichtigen Lesers, sondern auch handschriftliche Reaktionen auf den Text wie etwa Unterstreichungen von für den Leser relevanten Passagen, Notizen oder Kommentare, die die Gedanken des Lesers zu dem Text für die Nachwelt festhalten. Diese Hinzufügungen, sogenannte Annotationen, beispielsweise an den Rändern, den Marginalien, des Textes zeigen auf, wie die beiden unterschiedlichen Texte (auch die Annotationen sind Texte für sich) miteinander in Dialog treten und geben einen entscheidenden Einblick in den Leseprozess und die Rezeption des Textes. Das Buch, das wir dann in den Händen halten, ist ein gemeinsam geschaffenes Werk, für dessen Produktion nicht nur ein Autor zuständig war, sondern auch eine Reihe von Spezialisten wie Drucker, Editoren, Buchbinder, Buchhändler und eben die Leser, die ihre Gedanken zum Text handschriftlich darin verewigt haben.

Titelseite der Gesichte

Die Wunderliche und warhafftige Gesichte Philanders von Sittewald von Johann Michael Moscherosch von Wilstädt aus dem Jahr 1650 ist ein Werk aus dem Altbestand der Universitätsbibliothek Tübingen. Mit seinen stolzen 372 Jahren ist es ein hochempfindliches Exponat aus einer anderen Zeit, das im Rahmen dieser Ausstellung dem künstlichen Licht der Vitrine ausgesetzt wird. Da die Helligkeit die sensiblen Seiten zerstören würde, wird jede Woche eine neue Seite aufgeblättert, was somit nicht nur das materielle Buch schützt, sondern gleichzeitig ermöglicht, jede Woche andere handschriftliche Annotationen des unbekannten Lesers (oder der Leserin?) auszustellen.

Die Unterstreichungen machen die Priorisierungen beim Lesen innerhalb des Textes sichtbar und die Randbemerkungen „NB“, die mehrfach in den Marginalien des Werkes auftaucht und für „Notabene“ steht, bedeutet eine weitere Ebene der Notiz bzw. eine zusätzliche Vorgehensweise zur lesergerechten Einteilung des Textes. Zusätzlich nutzte der Leser die unbedruckten Seiten am Ende des Buches, um einen eigenen vierseitigen Kommentar zum Werk zu schreiben.

Interaktive Pinnwand

Als Teil unserer physischen Ausstellung steht in der UB Tübingen eine interaktive Pinnwand.

Das Ziel dieser Pinnwand ist es, gemeinsam ein kleines Commonplace Book/Board zu erstellen (siehe Erklärung im Abschnitt „Miscellanies“). Alle Besucher*innen der UB sind dazu eingeladen, sich von den bereits aufgehängten Zitat-Kombinationen inspirieren zu lassen und die Pinnwand weiter zu ergänzen und zu verändern. Am Ende des Monats freuen wir uns auf ein buntes Sammelsurium thematisch zusammenpassender Zitate.

Hier auf der Website werden wir einmal pro Woche ein aktualisiertes Foto der Pinnwand hochladen – so könnt Ihr auch von zuhause aus die Co-Kreativität der UB-Besucher*innen bewundern!

Diese Ausstellung wird vom Projekt C05 Die Ästhetik gemeinschaftlicher Autorschaft in der englischen Literatur der Frühen Neuzeit des SFB 1391 Andere Ästhetik organisiert.

Hier kannst Du mehr über unsere Arbeit erfahren.